Newsletter zur Aktienrechtsreform
Aktienrechtsrevision
In unserem neusten Newsletter stellen Reto Strittmatter und Lara Gachnang die wichtigsten Neuerungen der "grossen" Aktienrechtsrevision (Art. 620 ff. OR) vor. Die neuen Bestimmungen sind – abgesehen von wenigen bereits seit dem 1. Januar 2021 in Kraft stehenden Regelungen – seit dem 1. Januar 2023 auf bestehende Gesellschaften anwendbar.
Das Recht der Aktiengesellschaft wurde mit der Revision in vielen Einzelheiten nachgeführt und modernisiert. Das neue Recht sieht u.a. Flexibilisierungen im Bereich des Kapitals und neue Formen für die Durchführung von Generalversammlungen und Verwaltungsratssitzungen vor, stärkt die Aktionärsrechte punktuell und modifiziert das Finanznotstandsrecht.
Nachfolgend werden die wichtigsten Änderungen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) vorgestellt.
Kapital, Reserven, Dividenden
Neu kann das Aktienkapital in einer für die Geschäftstätigkeit wesentlichen ausländischen Währung denominiert werden, solange es einem Gegenwert von mindestens CHF 100 000 entspricht. Lautet das Aktienkapital auf eine ausländische Währung, so haben die Buchführung und die Rechnungslegung in derselben Währung zu erfolgen. Als zulässige Fremdwährungen hat der Bundesrat USD, GBP, EUR und YEN festgelegt.
Der Nennwert einer Aktie kann neu weniger als der bisherige Mindestnennwert von 1 Rappen betragen, solange er grösser als null ist.
Die (beabsichtigte) Sachübernahme gilt nicht mehr als qualifizierter Tatbestand bei der Gründung oder Kapitalerhöhung.
Die Bestimmungen zur genehmigten Kapitalerhöhung werden mit Inkrafttreten der Revision aufgehoben und durch das neue Rechtsinstitut des Kapitalbandes ersetzt. Die Generalversammlung («GV») kann den Verwaltungsrat («VR») in den Statuten ermächtigen, das im Handelsregister eingetragene Aktienkapital während einer Dauer von maximal 5 Jahren innerhalb einer bestimmten Bandbreite zu erhöhen oder herabzusetzen. Das Kapitalband darf nicht höher bzw. tiefer liegen als die Hälfte des eingetragenen Kapitals. Dabei ist stets das gesetzliche Mindestkapital zu beachten.
Das Kapitalherabsetzungsverfahren wird mit der Revision erleichtert. Neu reicht ein einziger Schuldenruf aus (bisher: drei) und die Gläubiger müssen ein allfälliges Begehren um Sicherstellung ihrer Forderungen innert 30 Tagen (bisher: innert zwei Monaten) stellen.
Im Recht der Reserven erfolgten terminologische Anpassungen und Klarstellungen. Die Reserven werden in die gesetzliche Kapitalreserve, die gesetzliche Gewinnreserve und die freiwillige Gewinnreserve unterteilt. Das Gesetz legt sodann verbindlich fest, in welcher Reihenfolge Verluste mit dem Gewinnvortrag und den Reserven verrechnet werden müssen.
Neu kann die GV gestützt auf einen Zwischenabschluss die Ausrichtung einer Zwischendividende beschliessen. Die Revisionsstelle muss den Zwischenabschluss vor dem Beschluss der GV prüfen. Keine Prüfung ist erforderlich, wenn die Gesellschaft ihre Jahresrechnung nicht durch eine Revisionsstelle eingeschränkt prüfen lassen muss. Auf die Prüfung kann verzichtet werden, wenn sämtliche Aktionäre der Ausrichtung der Zwischendividende zustimmen und die Forderungen der Gläubiger dadurch nicht gefährdet werden.
Neue Formen der GV
Die Einberufung der GV erfolgt mittels Mitteilung an die Aktionäre in der Form, die in den Statuten vorgesehen ist. Es ist möglich, dass die Einberufung ausschliesslich in elektronischer Form erfolgt (z. B. mittels E-Mail).
Das revidierte Recht bestimmt, dass die GV
an verschiedenen Orten gleichzeitig durchgeführt werden kann, sofern die Voten der Teilnehmenden unmittelbar in Bild und Ton an sämtliche Tagungsorte übertragen werden;
im Ausland durchgeführt werden kann, sofern die Statuten dies vorsehen und der VR in der Einberufung einen unabhängigen Stimmrechtsvertreter bezeichnet. Bei Gesellschaften, deren Aktien nicht an einer Börse kotiert sind, kann der VR auf die Bezeichnung eines unabhängigen Stimmrechtsvertreters verzichten, sofern alle Aktionäre damit einverstanden sind;
unter Verwendung von elektronischen Mitteln durchgeführt werden kann. Der VR kann vorsehen, dass Aktionäre, die nicht am Ort der GV anwesend sind, ihre Rechte auf elektronischem Weg ausüben können (hybride GV). Eine GV kann sodann mit elektronischen Mitteln ohne Tagungsort durchgeführt werden (virtuelle GV), wenn die Statuten dies vorsehen und der VR in der Einberufung einen unabhängigen Stimmrechtsvertreter bezeichnet. Bei Gesellschaften, deren Aktien nicht an einer Börse kotiert sind, können die Statuten vorsehen, dass auf die Bezeichnung eines unabhängigen Stimmrechtsvertreters verzichtet werden kann.
Neben der (physischen) Universalversammlung ist es nunmehr zulässig, eine GV ohne Einhaltung der für die Einberufung geltenden Vorschriften abzuhalten, wenn die Beschlüsse auf schriftlichem Weg auf Papier oder in elektronischer Form erfolgen, sofern nicht ein Aktionär oder dessen Vertreter die mündliche Beratung verlangt.
Beschlussfassung im VR
Der VR kann seine Beschlüsse fassen:
an einer Sitzung mit Tagungsort;
unter Verwendung elektronischer Mittel;
auf schriftlichem Weg auf Papier oder in elektronischer Form, sofern nicht ein Mitglied die mündliche Beratung verlangt. Im Fall der Beschlussfassung auf elektronischem Weg ist (vorbehältlich einer anderslautenden, schriftlichen Festlegung des VR) keine Unterschrift erforderlich.
Über die Verhandlungen und Beschlüsse des VR ist ein Protokoll zu führen, das vom Vorsitzenden und vom Protokollführer unterzeichnet wird.
Stärkung der Aktionärsrechte
Der Schwellenwert für die Einberufung einer ausserordentlichen GV wird bei börsenkotierten Gesellschaften auf 5 % des Aktienkapitals oder der Stimmen gesenkt (bisher 10 %). Bei Gesellschaften ohne börsenkotierte Aktien wird am bisherigen Schwellenwert von 10 % des Aktienkapitals oder der Stimmen festgehalten.
Für die Ausübung des Traktandierungsrechts sind neu 0.5 % des Aktienkapitals oder der Stimmen (börsenkotierte Gesellschaften) bzw. 5 % des Aktienkapitals oder der Stimmen (nicht börsenkotierte Gesellschaften) erforderlich. Unter den gleichen Voraussetzungen können Aktionäre verlangen, dass Anträge zu Verhandlungsgegenständen in die Einberufung der GV aufgenommen werden.
Bei nicht börsenkotierten Gesellschaften können Aktionäre, die mind. 10 % des Aktienkapitals oder der Stimmen halten, vom VR grundsätzlich jederzeit (statt wie bisher nur an der GV) schriftlich Auskunft über die Angelegenheiten der Gesellschaft verlangen.
Neu können Aktionäre, die mind. 5 % des Aktienkapitals oder der Stimmen vertreten, auch ohne Ermächtigung der GV Einsicht in die Geschäftsbücher und Korrespondenzen nehmen, soweit dies für die Ausübung der Aktionärsrechte erforderlich ist und die schutzwürdigen Gesellschaftsinteressen nicht gefährdet werden.
Überarbeitetes Finanznotstandsrecht
Der VR ist bei drohender Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft verpflichtet, Massnahmen zur Sicherstellung der Zahlungsfähigkeit zu ergreifen. Er trifft, soweit erforderlich, weitere Massnahmen zur Sanierung der Gesellschaft oder beantragt der GV solche, soweit sie in deren Zuständigkeit fallen. Er reicht nötigenfalls ein Gesuch um Nachlassstundung ein.
Zeigt die letzte Jahresrechnung, dass die Aktiven abzüglich der Verbindlichkeiten die Hälfte der Summe aus Aktienkapital, nicht an die Aktionäre zurückzahlbarer gesetzlicher Kapitalreserve und gesetzlicher Gewinnreserve nicht mehr decken (Kapitalverlust), ist der VR verpflichtet, Massnahmen zur Beseitigung des Kapitalverlusts zu ergreifen und, soweit erforderlich, weitere Massnahmen zur Sanierung der Gesellschaft zu treffen oder der GV solche zu beantragen, soweit sie in deren Zuständigkeit fallen. Hat die Gesellschaft keine Revisionsstelle, so muss die letzte Jahresrechnung vor ihrer Genehmigung durch die GV überdies grundsätzlich einer eingeschränkten Revision durch einen zugelassenen Revisor unterzogen werden.
Bei begründeter Besorgnis, dass die Verbindlichkeiten der Gesellschaft nicht mehr durch die Aktiven gedeckt sind (Überschuldung), muss der VR unverzüglich einen Zwischenabschluss (grundsätzlich zu Fortführungs- und Veräusserungswerten) erstellen. Die Zwischenabschlüsse sind durch die Revisionsstelle oder, wenn eine solche fehlt, durch einen zugelassenen Revisor zu prüfen. Ist die Gesellschaft gemäss den beiden Zwischenabschlüssen überschuldet, so benachrichtigt der VR das Gericht. Eine Benachrichtigung kann (wie bisher) unterbleiben, wenn Gesellschaftsgläubiger im Ausmass der Überschuldung im Rang hinter alle anderen Gläubiger zurücktreten, wobei das Gesetz nun die Voraussetzungen an einen Rangrücktritt präzisiert. Neu kann die Benachrichtigung des Gerichts auch unterbleiben, solange begründete Aussicht besteht, dass die Überschuldung spätestens 90 Tage nach Vorliegen der geprüften Zwischenabschlüsse behoben werden kann und dass die Forderungen der Gläubiger nicht zusätzlich gefährdet werden.
Anpassungen bei der Rückerstattungs- und Verantwortlichkeitsklage
Die Rückerstattungsklage (Art. 678 f. OR) wird verschärft. Bösgläubigkeit des ungerechtfertigt Bereicherten wird nicht mehr vorausgesetzt. Die Rückerstattungspflicht besteht, soweit ein offensichtliches Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung besteht; auf die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft wird nicht (mehr) abgestellt.
Bei der Verantwortlichkeitsklage (Art. 754 ff. OR) kam es nur zu wenigen Anpassungen. Das revidierte Recht bestimmt, dass im Konkurs eine mit einem Rangrücktritt versehene Forderung nicht zum Schaden hinzugerechnet werden darf. Der Entlastungsbeschluss der GV kann neu innert 12 Monaten (bisher 6 Monate) von den nicht zustimmenden Aktionären angefochten werden.
Klargestellt wird, dass die Anhebung der Rückerstattungs- bzw. Verantwortlichkeitsklage durch die Gesellschaft in der Kompetenz der GV liegt (bisher strittig). Die GV kann den VR oder einen Vertreter mit der Prozessführung betrauen.
Die relative Verjährungsfrist für die Rückerstattungs- und die Verantwortlichkeitsklage wird von fünf auf drei Jahre reduziert. Die absolute Verjährungsfrist beträgt bei beiden Klagen weiterhin zehn Jahre.
Statutarische Schiedsklauseln
Die Zulässigkeit statutarischer Schiedsklauseln war unter bisherigem Recht umstritten. Das neue Recht schafft Klarheit:
Neu können die Statuten für gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten eine Schiedsklausel zugunsten eines Schiedsgerichts mit Sitz in der Schweiz enthalten. Wenn die Statuten es nicht anders bestimmen, bindet die Schiedsklausel die Gesellschaft, ihre Organe und deren Mitglieder sowie die Aktionäre. Aus dem Handelsregister muss hervorgehen, dass die Statuten eine Schiedsklausel enthalten. Die neu hinzukommenden Aktionäre unterstehen ipso iure der Schiedsklausel. Es besteht kein zusätzliches Zustimmungs- und Formerfordernis für die Verbindlichkeit der Schiedsklausel.
Überführung der VegüV ins OR
Mit der Revision wurden die Bestimmungen der Verordnung gegen übermässige Vergütungen bei börsenkotierten Aktiengesellschaften vom 20. November 2013 («VegüV») – mit kleineren Änderungen – ins OR überführt (vgl. Art. 732 ff. OR).
Übergangsrecht
Die Bestimmungen des neuen Rechts sind – abgesehen von wenigen bereits früher in Kraft gesetzten Bereichen (vgl. dazu "Exkurs") – seit dem 1. Januar 2023 auf bestehende Gesellschaften anwendbar.
Gesellschaften, die den neuen Vorschriften nicht entsprechen, müssen innerhalb von zwei Jahren ihre Statuten und Reglemente den neuen Bestimmungen anpassen. Bestimmungen der Statuten und Reglemente, die mit dem neuen Recht nicht vereinbar sind, bleiben bis zur Anpassung, längstens aber noch zwei Jahre nach Inkrafttreten des neuen Rechts in Kraft.
Für genehmigte Kapitalerhöhungen und Kapitalerhöhungen aus bedingtem Kapital, die vor Inkrafttreten des neuen Rechts beschlossen wurden, kommt das bisherige Recht zur Anwendung. Die Beschlüsse der GV können nicht mehr verlängert oder geändert werden.
Exkurs: Bereits seit 1. Januar 2021 in Kraft stehende Bestimmungen
1) Einführung von Geschlechterrichtwerten
Für börsenkotierte Gesellschaften, die zwei der nachstehenden Grössen in zwei aufeinanderfolgenden Geschäftsjahren überschreiten:
a. Bilanzsumme von 20 Millionen Franken,
b. Umsatzerlöse von 40 Millionen Franken,
c. 250 Vollzeitstellen im Jahresdurchschnitt,
gilt, dass jedes Geschlecht mit mind. 30 % im VR bzw. mit mind. 20 % in der Geschäftsleitung vertreten sein soll. Werden diese Richtwerte nicht eingehalten, sind die Gründe für die Untervertretung und die Massnahmen zur Förderung des untervertretenen Geschlechts darzulegen («comply or explain»). Andere Sanktionen sind nicht vorgesehen. Den Gesellschaften wird eine Übergangsfrist von fünf Jahren (VR) respektive zehn Jahren (Geschäftsleitung) gewährt.
2) Transparenz bei Rohstoffunternehmen
Unternehmen, die von Gesetzes wegen zu einer ordentlichen Revision verpflichtet und selber oder durch ein von ihnen kontrolliertes Unternehmen im Bereich der Gewinnung von Mineralien, Erdöl oder Erdgas oder des Einschlags von Holz in Primärwäldern tätig sind, müssen jährlich einen Bericht über die Zahlungen an staatliche Stellen verfassen. Diese Pflicht gilt erstmals mit Bezug auf das Geschäftsjahr 2022.