Newsletter: VVG-Revision trifft auf alte Verträge – BGer entscheidet gegen Rückwirkung

16.04.2025, Giovanna Montanaro

Das Bundesgericht hat im Entscheid BGer 4A_189/2024 vom 27. Januar 2025 die Frage entschieden, ob das allgemeine direkte Forderungsrecht gegen den Haftpflichtversicherer gemäss revidiertem Art. 60 Abs. 1bis VVG auch auf Sachverhalte anwendbar ist, die sich vor dem Inkrafttreten der Bestimmung am 1. Januar 2022 ereignet haben.

Sachverhalt und Streitfrage

Die Klägerin A unterzog sich im Jahr 2014 einer handchirurgischen Operation, die in den darauffolgenden Jahren Komplikationen und starke Schmerzen verursachte. Im Jahr 2023 reichte A Klage wegen unsorgfältiger ärztlicher Behandlung gegen die Haftpflichtversicherung des behandelnden Arztes ein. Sie stützte sich auf das am 1. Januar 2022 neu eingeführte direkte Forderungsrecht gegen den Haftpflichtversicherer (Art. 60 Abs. 1bis VVG).

Die Haftpflichtversicherung bestritt ihre Passivlegitimation, weil sie den Versicherungsvertrag mit dem operierenden Arzt vor dem 1. Januar 2022 abgeschlossen hatte. Das Verfahren beschränkte sich deshalb auf die zentrale Rechtsfrage, ob Art. 60 Abs. 1bis VVG rückwirkend anwendbar sei, d.h. auf Versicherungsverträge, die vor dem 1. Januar 2022 abgeschlossen wurden.

A vertrat die Auffassung, dass die allgemeinen Übergangsbestimmungen des ZGB angewendet werden müssten (vgl. Art. 3 SchlT ZGB) und sie ihren Anspruch deshalb direkt gegen den Versicherer geltend machen könne. Die Haftpflichtversicherung argumentierte hingegen, die ebenfalls neu eingefügte Übergangsbestimmung (Art. 103a VVG) enthalte eine abschliessende Regelung und folglich sei Art. 60 Abs. 1bis VVG auf den mit dem operierenden Arzt abgeschlossenen Versicherungsvertrag nicht anwendbar.

Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht führte einleitend aus, dass Gesetzesbestimmungen gestützt auf den pragmatischen Methodenpluralismus auszulegen sind und die einzelnen Auslegungselemente nicht einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen sind. Sodann prüfte das Bundesgericht die verschiedenen Auslegungsmethoden (Wortlaut, Zweck, Systematik und Historie).

Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Formulierung von Art. 103a VVG für eine abschliessende übergangsrechtliche Regelung spreche und somit auch für Art. 60 Abs. 1bis VVG gelte. Auch aus systematischer Hinsicht sei davon auszugehen, dass nur die in Art. 103a VVG ausdrücklich aufgeführten neurechtlichen Bestimmungen zurückwirken sollen.

Ein Anliegen der Teilrevision des VVG bestand in einem verbesserten Schutz des geschädigten Dritten, weshalb mittels teleologischer Auslegung man zum Schluss gelangen könne, eine Rückwirkung des direkten Forderungsrechts auf altrechtliche Verträge entspreche diesem Anliegen am besten. Das Bundesgericht verwarf dieses Argument, denn abgesehen von den ausdrücklich in Art. 103a VVG genannten Ausnahmen (Formvorschriften und Kündigungsrecht), seien keine dem Schutz des Versicherungsnehmers (neuen) Bestimmungen auf bereits bestehende Versicherungsverträge anwendbar. Der beabsichtigte Schutzgedanke vermöge eine übergangsrechtlich unterschiedliche Behandlung von geschädigten Dritten und Versicherungsnehmern nicht zu rechtfertigen, sondern spreche im Gegenteil für deren einheitliche Behandlung.

Im Rahmen der historischen Auslegung stellte das Bundesgericht ausserdem ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers fest.

Im Ergebnis sprechen somit alle vier Auslegungselemente gegen eine Anwendung von Art. 60 Abs. 1bis VVG auf Versicherungsverträge, die vor Inkrafttreten der Änderungen des VVG am 1. Januar 2022 abgeschlossen wurden. Eine Rückwirkung findet nicht statt.

Entsprechend hat das Bundegericht die Passivlegitimation der Haftpflichtversicherung verneint.

Bemerkungen

Mit diesem Grundsatzentscheid hat das Bundesgericht hinsichtlich des zeitlichen Anwendungsbereichs des direkten Forderungsrechtes Rechtssicherheit geschaffen und eine der offenen Fragen beantwortet, die im Zusammenhang mit dem direkten Forderungsrechts bestehen (vgl. dazu den Aufsatz Direktes Forderungsrecht in jedem Fall?).